THEOLOGIE: BIBLISCHE THEOLOGIE
E.S.
Hamburg 2008
Eugen Drewermann: Deutung der Erzählung über den Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20)
Eine Analyse
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INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung: Drewermanns Ausgangsposition....................................S. 3
2. Die Grundlage der Deutung, die Quelle: Markus 5,1-20: Heilung eines besessenen Geraseners (Mt 8,28-34; Lk 8,26-39)...............................S. 4
2.1. Die Sünde und das Böse..........................................................S. 5 2.2. Epilepsie statt Dämonen.......................................................... S. 7 2.3. Der Besessene von Gerasa und Borderline....................................S. 8
3. Drewermann nimmt die Erzählung über Jona hinzu...........................S. 10 3.1. Das Buch Jona, Kapitel 1-4,11.......................................................S. 10 3.2. Jona und der Gerasener: ein Vergleich...............................................S. 13
4. Die fehlende Diagnose.............................................................S. 14
5. Die Antwort auf Drewermanns Tiefenpsychologie............................S. 15 6. Fazit.................................................................................S. 18 Literaturverzeichnis..................................................................S. 19
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Eugen Drewermann: Deutung der Erzählung über den Besessenen von Gerasa1 (Mk, 5,1-20)
Eine Analyse

1. Einleitung: Drewermanns Ausgangsposition
Drewermann versucht u. a., die Erzählung über den „Besessenen von Gerasa“2 in seinem Buch ‘Tiefenpsychologie und Exegese’3 tiefenpsychologisch zu deuten. Die daraus resultierenden Unebenheiten in Drewermanns Argumentationsstruktur können durch eine exemplarische Analyse seiner Auslegung am Beispiel der oben bezeichneten Erzählung aufgedeckt werden. Grundlagen für tiefenpsychologische Überlegungen finden sich in Drewermanns Buch ‘Glauben in Freiheit’4. Sein Anliegen besteht darin, dass er seinen Glauben unabhängig von den Richtlinien der etablierten (katholischen) Kirche leben will und dass er das Religiöse als solches für sich und andere definiert. Drewermann will sich frei machen von dem Diktat eines dogmatischen Überbaus und der damit einhergehenden Gesetzlichkeit.

Dazu schafft er den allgemeinen Rahmen. Im Prinzip schließt er an die Symbolschau Paul Tillichs an.5 Dabei geht er über das „Unbedingte im Bedingten“ bei Tillich hinaus6, indem er die biblische Symbolik aus ihrem historischen Kontext heraus nicht nur in die Bedeutung für die Gegenwart hebt, sondern auch im Rahmen psychologischer Deutung zeigen will, dass Ängste ein zeitloses durch die Kulturen und Glaubensbezeugungen geisterndes Phänomen sind.
1 Gerasa ist eine antike Stadt, auch Jerasch oder Jerash genannt. Sie befindet sich im Norden Jordaniens und war Teil der sogenannten Dekapolis (deka = zehn, polis = Stadt), eine Städtegemeinschaft bestehend aus zehn Städten östlich des Jordangrabens. Nach der Eroberung durch Alexander den Großen wurden sie nach griechischem Vorbild aufgebaut. Irrtümlicherweise hat man früher angenommen, dass die Dekapolis ihre Struktur durch die Invasion der Römer unter Pompeius im Jahre 64 v. Chr. erhalten hatte.
2 Vgl. Mt, 5,1-20.
3 Vgl. EUGEN DREWERMANN: Tiefenpsychologie und Exegese. Band II: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. 5. Auflage. Olten / Freiburg1989 Vgl., S. 247-277.
4 EUGEN DREWERMANN: Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik, Band 1: Dogma, Symbolismus, Solothurn – Düsseldorf 1993.
5 Vgl. PAUL TILLICH, Symbol und Wirklichkeit, Göttingen 1986, S. 3-11.
6Vgl. Derselbe, Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: PAUL TILLICH, Gesammelte Werke V: Die Frage nach dem Unbedingten, Stuttgart2 1978, S. 237-244. Tillich vertritt die Auffassung, dass das biblische Wort in seinem historischen und kulturellen Kontext in seiner Symbolkraft erkannt werden müsse. Zur Problematik siehe J. RINGLEBEN, Symbol und göttliches Sein, in: G. HUMMEL (Hg.), Gott und Sein. Das Problem der Ontologie in der philosophischen Theologie Paul Tillichs. Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988, Berlin/New York 1989, S. 165-181, hier S. 166, 181.
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In seinem Buch-Band zum Thema ‘Glauben in Freiheit’ befasst sich Drewermann mit seiner Kritik an der Machtanmaßung der (katholischen) Kirche, über die er die nach seiner Auffassung berechtigte Suche nach dem Religiösen und den damit verbundenen Fragen stellt. Er vermittelt ein Bild von der Entwicklung der Religion und deren Ausdrucksformen und davon, wie sie aus der menschlichen Psyche hervorgegangen sind. Der Kirche wirft er vor, aufgrund ihres Dogmatismus und Fanatismus eine „zwangsneurotische Urhorde“ zu sein. Theologische und tiefenpsychologische Deutungen folgen.

Drewermann verweist auf die Metaphern des Unbewussten. Dabei stützt er sich auf das Instrumentarium der Psychologie, Biologie, Soziologie sowie der Hirnphysiologie. Auf diese Weise versucht er, die Wurzeln des Wesens der Religion zu erfassen. In diesem Kontext bezieht er sich auf das Phänomen Angst. Die „Archetypen von Vater und Mutter“ werden zusätzlich skizziert.
Er erklärt die Funktion des Symbolismus, indem er in die religiöse Symbolsprache einführt. Die zentralen Symbole fußen Drewermann zufolge auf den menschlichen Grundängsten und er benennt die Neurosen. Er gelangt zu der Schlussfolgerung, dass nicht der Glaube bzw. die Konfession bindend für das religiöse Empfinden ist, sondern vielmehr die aus dem menschlichen Unbewussten hervorgehenden zeitlosen und universellen Bilder.
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2. Die Grundlage der Deutung, die Quelle:
Markus 5,1-20: Heilung eines besessenen Geraseners (Mt 8,28-34; Lk 8,26-39)

Kapitel 5
5,1 Und sie kamen an das jenseitige Ufer des Sees in das Land der Gerasener. 5,2 Und als er aus dem Schiff gestiegen war, begegnete ihm sogleich von den Grüften her ein Mensch mit einem unreinen Geist, 5,3 der seine Wohnung in den Grabstätten hatte; und selbst mit Ketten konnte ihn keiner binden, 5,4 da er oft mit Fußfesseln und mit Ketten gebunden worden war und die Ketten von ihm in Stücke zerrissen und die Fußfesseln zerrieben worden waren; und niemand konnte ihn bändigen. 5,5 Und allezeit, Nacht und Tag, war er in den Grabstätten und auf den Bergen und schrie und zerschlug sich mit Steinen. 5,6 Und als er Jesus von fern sah, lief er und warf sich vor ihm nieder; 5,7 und er schrie mit lauter Stimme und sagte: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht! 5,8 Denn er sagte zu ihm: Fahre aus, du unreiner Geist, aus dem Menschen! 5,9 Und er fragte ihn: Was ist dein Name? Und er spricht zu ihm: Legion ist mein Name, denn wir sind viele. 5,10 Und er bat ihn sehr, dass er sie nicht aus der Gegend fortschicke. 5,11 Es war aber dort an dem Berg eine große Herde Schweine, die weidete. 5,12 Und sie baten ihn und sagten: Schicke uns in die Schweine, damit wir in sie hineinfahren. 5,13 Und er erlaubte es ihnen. Und die unreinen Geister fuhren aus und fuhren in die Schweine, und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See, etwa zweitausend, und sie ertranken in dem See. 5,14 Und ihre Hüter flohen und verkündeten es in der Stadt und auf dem Land; und sie kamen, um zu sehen, was geschehen war. 5,15 Und sie kommen zu Jesus und sehen den Besessenen, der die Legion gehabt hatte, bekleidet und vernünftig sitzen, und sie fürchteten sich. 5,16 Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, wie dem Besessenen geschehen war, und das von den Schweinen. 5,17 Und sie fingen an, ihn zu bitten, dass er aus ihrem Gebiet weggehe. 5,18 Und als er in das Schiff stieg, bat ihn der, der besessen gewesen war, dass er bei ihm sein dürfe. 5,19 Und er gestattete es ihm nicht, sondern spricht zu ihm: Geh in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, wie viel der Herr an dir getan und [wie er] sich deiner erbarmt hat. 5,20 Und er ging hin und fing an, im Zehnstädtegebiet auszurufen, wie viel Jesus an ihm getan hatte; und alle wunderten sich.

2.1. Die Sünde und das Böse
Nach Drewermanns durchaus plausibler historisch-kritischer Einordnung dieser Perikope folgt seine Deutung von Markus 5,1-20. Drewermann verfährt deduktiv, d. h. anstatt gleich von der Quelle auszugehen und diese auszulegen, um so für Klarheit zu
sorgen, wählt er zunächst einen psychologisch terminierten Allgemeinplatz als 5
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Überbau, indem er sich auf Kierkegaard bezieht. Dieser hatte, so Drewermann, ein theologisches und psychologisches Gespür darin, dass er die Dämonie „als latentes Schicksal eines jeden Menschen [...] begreifbar machte“.7 Der Mensch werde aus Angst zum „Sünder“. Drewermann meint damit an Kierkegaard anschließend, dass der Sünder ein gesellschaftskonformer Mensch ist, da die Gesellschaft selbst sündhaft sei, kaum noch bestimmt durch christliche Werte, wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit, sondern vielmehr u. a. durch die Gier nach Geld, Anerkennung und Sicherheit. Der Mensch „sündigt“, passt sich also der Gesellschaft an, aus Angst vor der Freiheit, das bedeutet aus Angst vor der eigenen Wahrhaftigkeit. Äußere Zwänge führen zu gesellschaftlicher Konformität, das wahre Ich geht verloren. Ein weiterer Begriff, „das Böse“, tritt hinzu, das der Mensch begeht, um sich aus der „Angst der Möglichkeit zur Freiheit“ zu befreien. Damit ist gemeint, dass der Mensch nicht aus seiner gesellschaftlichen Scheinwelt herauszutreten vermag. Vielmehr verbleibt er in dieser und begeht das „Böse“. Das bedeutet, er begeht eine missliche Handlung oder einen Regelverstoß innerhalb seiner hermetischen Gedanken- und Lebenswelt, wagt aber nicht den Weg in die Freiheit. Der Mensch, der so handelt, gerät in einen Teufelskreis, da die resultierende mögliche Strafe die Angst vor der eigentlichen Befreiung potenziert. Gemeint ist die Angst davor, vollends Farbe zu bekennen, und damit die Angst vor dem „Verlust“ des Gewohnten in seinem angepassten Leben. „Das Böse“ könne nur durch „das Gute“ gerettet werden. Doch wer sich im Negativen erst einmal eingerichtet habe, fürchte die Rettung durch „das Gute“.8
Die Begriffe „das Gute“ und „das Böse“ werden nicht definiert, obwohl Drewermann das sehr wohl könnte – ein Verweis auf seine ‘Strukturen des Bösen’9 wäre hilfreich (gewesen). Er hätte herausstellen können, dass an dieser Stelle „das Böse“, anders als die „Sünde“ (hier: die Anpassung), den Versuch des Ausbruchs aus den bürgerlichen Zwängen bedeutet. „Sünde“ aber bedeutet, sich vollends den gesellschaftlichen Regeln zu beugen. Dies konstatiert Drewermann so, obwohl er
7 EUGEN DREWERMANN: Tiefenpsychologie und Exegese. Band II: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. 5. Auflage. Olten / Freiburg1989 Vgl., S. 247-277, S. 258.
8 Vgl. DREWERMANN: Tiefenpsychologie und Exegese, S. 258.
9 EUGEN DREWERMANN: Strukturen des Bösen I. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht, 10. Auflage, Paderborn 1995. Ders.: Strukturen des Bösen II. Die jahwistische Urgeschichte in psychoanalytischer Sicht, 8. Auflage, Paderborn 2000. Ders.: Strukturen des Bösen. Sonderausgabe. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer, philosophischer Sicht, Paderborn 1988.
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weiß, dass das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, angefangen bei der Familie, nicht ohne Regeln funktionieren kann. Diesen Umstand erkennt Drewermann übrigens zutreffend als paradox. Dieses Paradoxon allerdings resultiert aus der von Drewermann selbst vorgenommenen auf Kierkegaard rekurrierenden Definition von „der Sünde“. Die Herleitungen des „Begriffs Sünde“ in Anlehnung an die sieben Todsünden oder nach den Trilogien von beispielsweise Paul Tillich und Karl Barth wären an dieser Stelle zwar möglich, doch nur für Teilbereiche plausibel nachvollziehbar, so dass hier auf die Ableitung zu einer weiterführenden Erläuterung verzichtet wird. Verstehen wir also den Begriff „Sünde“ besser in direkter Anlehnung an die Auffassung von Kierkegaard und Drewermann, also als Anpassung an unsere, die Sünde evozierende Gesellschaft selbst.

Das Verfahren der Analyse Drewermanns, das auf der Emphase des Menschen in seinem Missverhältnis zu sich selbst basiert, ist dialektisch. Dieser Zwiespalt, die Freiheit zu wollen und sich ihr zugleich zu verschließen, betrifft, so Drewermann, jedermann bzw. jeden Menschen. Das Problem für den Leser, das sich nun stellt, besteht darin, Kierkegaards Weisheit bzw. Drewermanns Satz gehaltvoll auf die Erzählung vom „besessenen Gerasener“ zu beziehen. War der „Besessene“ nun – wie jeder – ein Sünder, der sich schließlich aus dem Diktat seiner Gemeinschaft befreit hat und so, nun endlich frei geworden, vom Bösen befallen ist, von dem er jetzt befreit werden muss? Oder ist der Kranke auf dem Weg zur Freiheit mitten in einer Zwangsneurose stecken geblieben? Was auch immer: In seiner Psychoanalyse ist Drewermann so sehr mit einer verallgemeinernden Symboldidaktik und möglicherweise seiner eigenen aus der Auseinandersetzung mit seiner Kirche resultierenden Zerrissenheit befasst, dass er völlig außer Acht lässt, worum es sich denn tatsächlich bei dieser Erzählung handeln könnte, nämlich um eine spezifische Krankheit und nicht etwa nur um eine gravierende seelische Irritation.

2.2. Epilepsie statt Dämonen
Schon zu Urzeiten des homo sapiens gab es (damals) unbekannte Krankheitsbilder, wie zum Beispiel das der Epilepsie. Dieses Krankheitsbild als solches wurde schon
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lange vor Christus erkannt.10 Durch Jesus schließlich wurde in Ermangelung medizinischer Kenntnisse von dieser Krankheit Befallenen der „Dämon“ ausgetrieben. Die Krankheitssymptome, die in den synoptischen Evangelien beschrieben werden, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Knaben, der von Christus durch eine Dämonenaustreibung geheilt wird, um einen epilepsiekranken Jungen handelt. Die Menschen, die von vermeintlich „bösen Geistern“ befallen waren, litten zweifelsfrei an Epilepsie. Die Symptome, wie Schaum vor dem Mund, Bewusstlosigkeit, Zähneknirschen und Zuckungen, galten als dämonisch. Dieser Krankheitszustand wurde als Teufelsbesessenheit gedeutet. Eine genaue Beschreibung findet sich bei Markus 9,17:
Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht.
Aufschlussreich dazu Kreudenstein:
„Epileptiker waren für die Wunderheiler wunderbare Objekte, denn nach einem Anfall waren sie wieder weitgehend normal, also nach Meinung der Beobachter geheilt. Solch einen Anfall konnte man leicht durch Hyperventilation (rasche Atmung) erzeugen. Wenn wirklich jemand bemerkte, dass die Heilung nicht von Dauer war, so war der Meister schon wieder an einem anderen Ort.“ 11
Was bedeutet diese Feststellung mit Bezug auf die Erzählung vom „besessenen“ Gerasener? Möglicherweise erkennt Drewermann nicht, was schon der Autor des Markusevangeliums, der sich hier durchaus auf einen wahren Vorfall bezogen haben mag, welchen ihm die mündliche Überlieferung möglicherweise zugetragen hatte, nicht so recht einzuschätzen vermochte, nämlich das damals unbekannte, heute aber als psychische Krankheit definierte Borderline-Symptom. Das bedeutet, der (tiefen)psychologisch deutende Drewermann erkennt nicht das eigentliche Problem, das womöglich tatsächlich vorliegende Krankheitsbild, welches von Konrad Stauss,
10 Schon Hippokrates (460 – 375 vor Christus), der griechisch Arzt, bezeichnete Epilepsien als Störung im Gehirn. Doch erst im 19. Jahrhundert fand diese Erkenntnis in der Medizin Anerkennung.
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11 online.de/Bibelkritik/Jesus_Teil3.htm.
Siehe KREUDENSTEIN, Die Wunder des Jesus von Nazareth, www.kreudenstein- 8

wie folgt, auf die Erzählung bezogen wird: „Diese Geschichte ist wie eine Umrisszeichnung des Problems Borderline und seiner Lösung“.12

2.3. Der Besessene von Gerasa und Borderline
Woran kann man die Borderline-Persönlichkeits-Störung (BPS) ablesen? Borderline bedeutet zunächst „Grenzlinie“. Früher hat man diese Störung in neurotische und psychotische Störungen eingeordnet. Das Symptombild zählt man zu den komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen. Die spezifische Einordnung von Verhaltensgestörten in das Krankheitsbild der BPS ist schwierig, da es verschiedene Formen von Borderline gibt. Borderline gilt als die am häufigsten diagnostizierte psychische Störung. Gefühle, das Denken und das Handeln sind in Mitleidenschaft gezogen. Dieser Faktor äußert sich in einem negativen und zum Teil paradoxen Verhalten gegenüber anderen Menschen sowie im gestörten Verhältnis zu sich selbst. Dissoziative Störungen und Depressionen sind u. a. prinzipielle Begleiterscheinungen der Borderline-Persönlichkeits-Störung. Kennzeichen der BPS sind Wechsel vom einen Extrem zum anderen.13
Ein Versuch der Einordnung der Verhaltensstörung des Geraseners in die BPS könnte, wie folgt, erfolgen: Der Hilfesuchende mit diesem Symptom lehnt die Hilfe, die ihm zuteil werden kann bzw. könnte, nicht ab, um dann doch bewusst Heilung zu erfahren – Drewermann lässt das auch durchblicken –, sondern vielmehr verhält er sich ambivalent, indem er tatsächlich mit aller Nachhaltigkeit die Hilfe des Helfers ablehnt, also ein klares „Nein“ vermittelt, u n d z u g l e i c h den Versuch zur Hilfe befürwortet. Das bedeutet, die Ablehnung der Hilfe als Axiom oder als final geführter Gedankensatz (damit, um zu) als Wunsch nach Hilfe entfällt. An die Stelle der Prämisse des „Nein“ für das „Ja“ tritt in diesem spezifischen Fall die Ambitendenz, also die affektive Gleichstellung von „Nein“ und „Ja“ und somit die Paradoxie. Dieser Umstand macht ja auch den Zugang Jesu bzw. des unbekannten Heilers – es gilt nicht als gesichert, dass es sich hier um den historischen Jesus handelt – zum Kranken so problematisch und außerordentlich schwierig: Der innere Wunsch nach Hilfe wird
12 KONRAD STAUSS, Neue Konzepte zum Borderline-Syndrom, Paderborn 1993.
13 Vgl. dazu - auch weiterführend: ROMUALD BRUNNER, Borderline-Störungen und selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen : Ätiologie, Diagnostik und Therapie, Göttingen 2008.
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vom Kranken zeitgleich auf drastische Weise durch die ernsthaft radikale Ablehnung blockiert und damit überlagert. Dabei überwiegt die Macht der negativen Kraft, obwohl diese eigentlich nicht stärker ist als der positive innere Impuls zur Heilung. Daher ist auch die Heilungsquote von Borderline-Patienten so drastisch niedrig (K. Stauss). Der Kranke leidet an multiplen Persönlichkeiten, die sich in ihm vereinen und gegeneinander stehen. Das Symptom wird zum Syndrom. Dass Jesus den „Besessenen“ zu heilen vermag, wird schließlich als Wunder dargestellt. In diesem Fall – und gerade für damalige Verhältnisse – wird dem Leser vor Augen geführt, dass Jesus bzw. der Heiler das Unmögliche möglich macht. Diesen Wunderglauben dokumentiert auch Drewermann, wenn er schreibt:
„In der Tat kann die Geschichte des Besessenen mithin der ‚Verkündigung’ des ‚Glaubens’ dienen, aber es handelt sich dabei nicht länger um einen abstrakten Theologenglauben, sondern um ein einfühlbares, erfahrungsgesättigtes, menschlich verbindendes und verbindliches Bild für d a s W u n- d e r der Verwandlung [...] von Entfremdung in Freiheit, von Selbsthass und Einsamkeit in Würde und Gemeinsamkeit.“ 14
KAP.1

3. Drewermann nimmt die Erzählung über Jona hinzu
3.1. Das Buch Jona Kapitel 1-4,11
1 Es erging das Wort Jahwes an Jona, den Sohn des Amittai, also: 2 Auf, gehe nach Ninive, der großen Stadt, und predige ihr, denn ihre Bosheit ist zu mir gedrungen. 3 Aber Jona machte sich auf, um vor Jahwe nach Tarschisch zu fliehen. Er ging nach Japho hinab und fand ein Schiff, das nach Tarschisch fuhr, und er bezahlte das Fahrgeld und stieg ein, um mit ihnen nach Tarschisch zu fahren, fort von dem Angesicht Jahwes. 4 Jahwe aber warf einen starken Wind auf das Meer, und es entstand ein gewaltiger Sturm, so dass das Schiff nahe daran war zu scheitern. 5 Da fürchteten sich die Schiffer und schrieen, ein jeder zu seinem Gott; und sie warfen die Gegenstände, die im Schiffe waren, ins Meer, um das Schiff zu erleichtern. Jona aber war in den unteren Teil des Schiffes hinab gestiegen, hatte sich hingelegt und war eingeschlafen. 6 Da ging dar Kapitän zu ihm und sprach zu ihm: Was
14 Vgl. EUGEN DREWERMANN: Tiefenpsychologie und Exegese. Band II: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. 5. Auflage. Olten/Freiburg1989 Vgl., S. 247- 277, S. 275.
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schläfst du? Steh auf und rufe zu deinem Gott! Vielleicht wird der Gott unser gedenken, dass wir nicht umkommen. 7 Und sie sprachen einer zum anderen: Wohlan, wir wollen das Los werfen, um zu erfahren, wer schuld ist, dass dieses Unglück uns getroffen hat. Und sie warfen das Los, und das Los fiel auf Jona. 8 Und sie sagten zu ihm: Sag uns doch, was du für ein Geschäft betreibst, woher du kommst und welchem Volke du angehörst. 9 Da sagte er zu ihnen: Ich bin ein Hebräer und verehre Jahwe, den Gott des Himmels, der das Meer und das Festland gemacht hat. 10 Da fürchteten sich die Männer sehr und sagten zu ihm: Warum hast du das getan? Denn die Männer wussten, dass er vor Jahwe geflohen war, er hatte es ihnen selbst erzählt. 11 Da sagten sie zu ihm: Was sollen wir mit dir anfangen damit das Meer sich beruhigt und von uns ablasse? Denn das Meer wurde immer stürmischer. 12 Er antwortete ihnen: Nehmt mich und werft mich ins Meer, damit das Meer sich beruhige und von euch ablasse, denn ich weiß, dass um meinetwillen dieser große Sturm über euch gekommen ist. 13 Und die Männer legten sich in die Ruder, um ans Land zu kommen, aber sie vermochten es nicht, denn das Meer stürmte immer mächtiger gegen sie an. 14 Da riefen sie zu Jahwe und sprachen: Ach Jahwe, lass uns doch nicht zugrunde gehen wegen des Lebens dieses Mannes da und bringe nicht unschuldiges Blut über uns, denn du, Jahwe, hast, wie es dir gefiel, getan. 15 Und sie nahmen Jona und warfen ihn ins Meer, und das Meer ließ ab von seinem Toben. 16 Da fürchteten sich die Männer sehr vor Jahwe, und sie brachten Jahwe ein Opfer dar und machten Gelübde.

KAP.2
1 Da bestellte Jahwe einen Fisch, um Jona zu verschlingen, und Jona war drei Tage und drei Nächte im Bauche des Fisches. 2 Und Jona betete zu Jahwe, seinem Gott, aus dem Bauche des Fisches 3 und sprach: Ich rief aus meiner Not zu Jahwe, und er erhörte mich; aus dem Schoß der Scheol schrie ich empor, du hörtest meine Stimme. 4 Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, die Fluten umgaben mich. Alle deine Wegen und Wellen gingen über mich dahin. 5 Da sagte ich mir: Ich bin verstoßen von dir. Wie werde ich je wieder schauen deinen heiligen Tempel? 6 Die Wasser stiegen mir bis zur Gurgel, es umfing mich die Flut, Schilf wand sich um mein Haupt 7 an der Wurzel der Berge. Hinab gestiegen war ich zur Unterwelt, zu den Völkern von einst. Aber du zogst aus der Grube mein Leben, Jahwe, mein Gott. 8 Als meine Seele in mir verschmachtete, da gedachte ich Jahwes. Mein Gebet drang bis zu dir in deinen heiligen Tempel. 9 Die da nichtige Götzen verehren, verzichten auf ihr Glück. 10 Ich aber will mit lautem Dank dir Opfer bringen. Was ich gelobt, will ich erfüllen. Die Hilfe kommt von Jahwe. 11 Und Jahwe gebot dem Fisch, und er spie den Jona aufs Land.

KAP.3
1 Es erging das Wort Jahwes an Jona zum zweiten Male also: 2 Steh auf und geh nach Ninive, der großen Stadt, und halte ihr die Predigt, die ich dir auftragen werde. 3 Und Jona machte sich auf und ging nach Ninive, wie Jahwe ihm aufgetragen hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tage brauchte man, um sie zu durchwandern. 4 Jona ging eine Tagereise weit in die Stadt hinein und predigte und sprach: Noch vierzig Tage, und Ninive wird zerstört werden. 5 Die Männer von Ninive 11
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aber glaubten Gott und riefen ein Fasten aus und zogen Bußgewänder an, groß und klein. 6 Und die Kunde davon drang bis zum König von Ninive, und er erhob sich von seinem Thron, legte den Mantel ab, hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche. 7 Und er ließ in Ninive ausrufen und gebot: Auf Befehl des Königs und seiner Großen! Menschen und Tiere, Rinder und Schafe sollen nicht das Geringste genießen, nicht auf die Weide gehen und kein Wasser trinken! 8 Man soll sich vielmehr in den Sack hüllen und sie sollen mit Macht zu Gott rufen, und ein jeder soll sich bekehren von seinem bösen Tun und von dem Unrecht, das an seinen Händen ist! 9 Vielleicht dass Gott es sich wieder gereuen lässt und von seinem Zorn ablässt, dass wir nicht zugrunde gehen. 10 Als nun Gott sah, was sie taten, dass sie von ihrem bösem Tun sich abkehrten, da reute ihn das Böse, das er ihnen zu tun angedroht hatte, und er tat es nicht.

KAP.4
1 Das verdross Jona gar sehr, und er ward zornig. 2 Und er betete zu Jahwe und sprach: Ach Jahwe, habe ich das nicht gesagt, als ich noch in meiner Heimat war? Deshalb wollte ich dir zuvorkommen und nach Tarschisch fliehen, denn ich wusste, dass du ein gerechter und, barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und reich an Gnade, und dass dich das Böse gereut. 3 Und nun, Jahwe, nimm doch mein Leben von mir, denn es ist besser, ich sterbe, als dass ich am Leben bleibe. 4 Da sprach Jahwe: Ist es wohl recht, dass du zornig bist? 5 Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich im Osten der Stadt nieder, machte sich daselbst eine Hütte und saß in deren Schatten, um zu sehen. was mit der Stadt geschehen würde. 6 Und Jahwe Gott bestimmte eine Rizinusstaude, dass sie über Jona emporwachse, Schatten gebe seinem Haupt, um ihn von seinem Unmut zu befreien. Und Jona freute sich sehr über den Rizinusstrauch. 7 Am anderen Morgen aber, als die Morgenröte emporstieg, da entbot Gott einen Wurm, der stach die Rizinusstaude, und sie verdorrte. 8 Als nun die Sonne aufging, bestellte Gott einen glühenden Ostwind, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er ganz ermattete, sich den Tod wünschte und sprach: Es ist besser ich sterbe, als dass ich am Leben bleibe. 9 Da sprach Gott zu Jona: Ist es wohl recht, dass du zürnst wegen der Rizinusstaude? Da erwiderte er: Mit Recht bin ich erzürnt und möchte sterben. 10 Da sprach Jahwe: Du hast Mitleid mit dem Rizinusstrauch, um den du dich nicht gemüht hast und den du nicht herangezogen hast, der in einer Nacht heranwuchs und in einer Nacht verging. 11 Und ich sollte nicht Mitleid haben mit Ninive, der großen Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht zwischen rechts und links unterscheiden können, und soviel Vieh?
Drewermann sieht in der alttestamentlichen Erzählung über Jona ein Pendant zu der neutestamentarischen über das Schicksal des Geraseners:
„Vielleicht gibt es in der Bibel kein Bild, dass dem Zustand einer solchen unendlichen Verzweiflung mehr entspricht als die Szene, da der Prophet Jona auf der Flucht vor dem Lebensauftrag Gottes im klaren Bewusstsein um den Grund seiner Zerrissenheit die Frage der
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Seeleute beantwortet, was sein Gewerbe sei, woher er komme, wo er daheim sei und zu welchem Volk er gehöre [...] Auf all diese Frage könnte Jona, rein äußerlich gesehen, befriedigend antworten , denn in all dem wohnt nicht die Quelle seiner Angst [...] noch der Grund seiner Verzweiflung und Verlorenheit; verzweifelt ist Jona nur, weil er sich weigert, vor Gott zu sein und zu tun, wozu er sich berufen fühlt [...] Der Walfisch des Jona bedeutet symbolisch nichts anderes als ein Leben in den Grabhöhlen von Gerasa.“ 15
3.2. Jona und der Gerasener: ein Vergleich
Drewermann unterscheidet die beiden Erzählungen, die über den Gerasener und jene über Jona, nicht: Die alttestamentliche Erzählung (Jona) ist jedoch theologisch anders gestrickt als die des Neuen Testamentes (über den Gerasener). Es muss zunächst der Unterschied in der Nuancierung zwischen den Erzählungen des Alten Testamentes und denen des Neuen Testamentes generell herausgestellt werden. In der alttestamentlichen Literatur finden sich beispielsweise Erzählungen, die die Auswirkungen von Handlungen sowie die Rückwirkung auf den Handelnden beschreiben. Dabei handelt es sich um die grundlegenden Erfahrungen menschlichen Lebens, denen folgende Einstellung zugrunde liegt: „Wird dem Gerechten vergolten auf der Erde, dann erst recht dem Frevler und Sünder“ (Spr 11,31; vgl. 22,18). Auch wenn Jesus in seiner Verkündigung auf alttestamentliche jüdische Auffassungen zurückgreift, indem er Lohn und Strafe ins Verhältnis setzt, so hebt sich seine Verkündigung dennoch von den traditionellen jüdischen Darstellungen im Alten Testament dadurch ab, dass er sich Gott primär als dem barmherzigen zuwendet, der den Sündern vergibt.
Im Falle Jona muss außerdem hervorgehoben werden, dass es sich bei dieser Erzählung, anders als bei der Erzählung über den Gerasener, nicht um ein Wunder durch Heilung handelt, sondern vielmehr um die Vermittlung der Erkenntnis, dass zur wahren Selbsterkenntnis die Fahrt durch das Tal („durch Nacht und Dunkelheit“) das Triebwerk für den Erkenntnisgewinn und gleichsam zur Umkehr ist.
Der starke Prophet Jona im Alten Testament will aus mangelnder Zuversicht seinen Auftrag nicht ausführen, und jene Seeleute, die ihn ins Wasser werfen, fürchten die
15 Vgl. EUGEN DREWERMANN: Tiefenpsychologie und Exegese. Band II: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. 5. Auflage. Olten/Freiburg1989 Vgl., S. 247- 277, hier S. 259 f.
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naturgewaltige Strafe Gottes. Jesus hingegen relativiert im Neuen Testament die Vorstellung von der Furcht als solche, indem er beispielsweise bei der Sturmstillung (diese Erzählung ist der über den Gerasener „vorangestellt“) seine Jünger aufmuntert und sagt: „Fürchtet euch nicht!“16 Und den Gerasener belehrt er nicht, wie Gott den Jona in der Darstellung des Redaktors, der Gott sprechen lässt, sondern er hilft ihm unumwunden. Die Möglichkeit außerdem zur Reflexion, wie Jona sie hat, würde sich bei dem exaltiert psychisch kranken Gerasener weit schwieriger gestalten. Jona ist gesund. Der Gerasener ist krank. Gemeinsam ist beiden die göttliche Hilfe, die aber völlig unterschiedliche Intentionen hat. Daraus folgt, dass ohne Worte der Differenzierung (nach Ungleichungen und Gleichungen) die Erzählung über Jona und die über den Gerasener so nicht zusammen gesehen werden können.

Bezöge Drewermann also seine Psychoanalyse auf die Jona-Erzählung (AT) allein oder würde er hinsichtlich der neutestamentarischen auf das einem jeden Menschen innewohnende Potenzial für eine heute psychiatrisch bekannte Erkrankung verweisen und die spezifische Krankheit beim Namen nennen, statt den Besessenen auf die Ängste des Menschen generell zu beziehen, wären seine durchaus interessanten und überlegenswerten Ausführungen klarer und mit mehr Gewinn lesbar.

4. Die fehlende Diagnose
Nun wäre es bedenkenswert zu erfahren, welche Faktoren denn genau zu dem Krankheitsbild des Geraseners geführt haben. Das bedeutet, Drewermann müsste sinnvoller Weise versuchen, dezidiert zu rekonstruieren bzw. zu konstruieren, aus welchem spezifischen Umfeld und, darüber hinaus, aus welchen Ablaufmöglichkeiten dieses Krankheitsbild denn resultiert, also eine Diagnose stellen. Drewermann widmet indes diesem hehren Komplex vorerst allgemein einen zweieinhalb Zeilen umfassenden Klammersatz: „[...] (die Mutterbindung, die sexuelle Gehemmtheit, die oralen Schuldgefühle, die Riesenerwartungen und Ohnmacht- Gefühle, der Vaterhass und die kleinkindliche Sehnsucht nach Geborgenheit etc., etc.).“17 Später erfolgen
16 Lk, 2,10.
17 Vgl. EUGEN DREWERMANN: Tiefenpsychologie und Exegese. Band II: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. 5. Auflage. Olten/Freiburg1989 Vgl., S. 247- 277, hier S. 265.
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dann noch einmal Verweise auf Eltern, Angehörige, (vermeintliche Respekts)- Personen des eigenen Lebensumfeldes sowie ein Verweis auf den Urgrund der Kindheit, Faktoren, die möglicher Weise Schaden angerichtet haben und Einflüsse darstellen, die zur inneren Zerrissenheit führen können. Doch zugute halten muss man Drewermann, dass er gar nicht mehr darüber schreiben kann, fehlt doch in seinen Überlegungen, dass bei Markus höchstwahrscheinlich ein Borderline-Kranker dargestellt wird. Deshalb fällt diese Erzählung ja auch, im Unterschied zu den anderen, so sehr aus dem Rahmen. Doch es besteht kein Zweifel: Jesus ist überlegen, gelassen, schlagfertig, wunderbar.

5. Die Antwort auf Drewermanns Tiefenpsychologie
Drewermann therapiert sich selbst. Allein dies bezeugt der – in Drewermanns Werken insgesamt häufig wiederkehrende – Bezug auf Kierkegaards melancholische Existenzbetrachtung, welche sich generell von den Grundmotiven Angst und Verzweiflung nährt. Daraus resultiert ja der Versuch, die Phänomene des Bösen monokausal zu erklären und zu überwinden. So Drewermann: „Gott hat ein Recht, dass seine Schöpfung nicht durch Angst verwüstet wird, und es ist nicht erlaubt vor der Macht des Bösen zu kapitulieren.“ Doch wenn das Böse überwunden werden muss, wie verhält es sich dann zur Sünde? , könnte man fragen. Es ist schon klar, was Drewermann hier meint. Das Begehen des Bösen ist ein zwielichtiger Ausweg, sich aus einem Reglement zu winden, aber es ist nicht die tatsächliche Befreiung von den Zwängen. Diese wird erst möglich, will man Drewermann verstehen, wenn die/der Betroffene Gott ins Herz lässt und diesem vertraut und darauf folgend ihr/sein Individuum entfaltet. Kontovers allerdings lässt sich, wie folgt, praktisch argumentieren:

Ein Lehrling in einer Reparaturwerkstatt fühlt sich von seinem Chef und seinen Kollegen gegängelt, weil er dauernd niedere Arbeiten ausführen muss. Er hat nicht den Mut zu kündigen und zu gehen. Doch um seinem Ventil Luft entweichen zu lassen, begeht er „das Böse“, indem er seinem Vorgesetzten oder einem missliebigen Kollegen heimlich in die Kaffee-Tasse spuckt oder noch Schlimmeres ausführt. Er verspürt Genugtuung, wenn die anderen ahnungslos den verseuchten Kaffee trinken.
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Diese Handlung befreit den Auszubildenden jedoch nicht aus seiner Misere. Wirklich frei wäre er, wenn er für sich die Verhältnisse änderte und (Gott im Herzen, so Drewermann gemäß der Intention der Erzählung von Markus) die Konsequenzen zöge. In einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit und Lehrstellenknappheit ist er jedoch auf den Abschluss der Berufsausbildung angewiesen, um zunächst sich und später seine Familie ernähren zu können. Er kann nicht einfach zum Chef gehen und sagen: „Ich habe Gott gefunden und die Unendlichkeit in mir erkannt, Du kannst mich mal.“ Das bedeutet, die von Drewermann ersehnte utopische Freiheit muss der Lehrling sich erst einmal l e i s t e n können. Ihm bleibt also gar nichts anderes übrig, als mit den Wölfen heulen und sich den Regeln zu fügen, bis er in der Position ist, seine persönlichen Vorstellungen entfalten zu können. Doch auch dann geht der Teufelskreis weiter, der sich abstrahiert, wie folgt, darstellen lässt:

Drewermann lässt den Leser mit der von ihm selbst aufgeworfenen Problematik ein wenig im Ungewissen: Es sei Sünde, konform zu funktionieren. Daher müssen wir uns aus der gesellschaftlichen Enge befreien. Dies können wir letzten Endes aber nicht, da sonst die (göttliche) Ordnung und damit auch die Naturgesetzlichkeit außer Kraft gesetzt würde. Der Gerasener bietet mit seinem Verhalten keine Lösung. Er zeigt nur, was mit einem Menschen passieren kann. Schließlich muss er geheilt werden. Und nachdem er geheilt worden ist und er seine Freiheit wiedererlangt hat, ist er Drewermann zufolge durch das Begreifen des Göttlichen und der Unendlichkeit in ihm gesund und von seinen Ängsten befreit. Er ist jetzt in der Lage, sein eigenes Selbst zu bestimmen und sein Leben individuell zu führen und wird nicht dem verkehrten Maßstab folgen, der Sicht der anderen – wie andere ihn sehen bzw. sehen wollen – zu entsprechen. Er könne nun – ganz banal – sein eigenes bürgerliches Leben führen. Die ihm innewohnende Kraft Gottes mache dies möglich – und die Kunde davon. Doch Drewermann vergisst, es bleibt immer noch die gesellschaftliche Norm und Form. Weder die familiäre noch die gesellschaftliche Kette ist letztlich aufgehoben, auch dann nicht, wenn der Geheilte seine durch Gott inspirierte neu gewonnene Freiheit bezeugt. Wird jetzt der Geheilte, der Anfällige, wieder krank? Und der alttestamentliche Jona? Er will nicht nach Ninive, um dort das Wort Gottes zu
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verkünden, eben weil die Menschen dort anders funktionieren als er sich das als Prophet vorstellt.
Streichen wir doch einfach diese beiden so unterschiedlichen Lehrstücke, die Drewermann aus dem Neuen und dem Alten Testament wählt und die weder richtig zusammenpassen noch so recht den Satz von Kierkegaard aufzulösen vermögen. Blicken wir doch auf Kierkegaard allein. Wie kann man frei und psychisch gesund sein, ohne dass gleich das ganze System, in dem man lebt, dafür aufgehoben werden muss, was wiederum auch gar nicht funktionieren würde? Versucht man am besten, ein Vermögen zu machen, damit man sich auf einer einsamen Insel niederlassen kann, um sich dann selbst zu regieren? Das wäre etwas trist. Man bräuchte noch Untergebene, die man regieren (nicht tyrannisieren) kann. Ist der Regent frei, weil er Gesetze erlässt, an die sich andere und auch er selbst halten müssen? Oder zwingen ihn die daraus resultierenden Verpflichtungen gegenüber seinem Volk in die Neurose? Was ist nun, wenn die Bürger sich nicht an die Regeln halten wollen, die der frisch gebackene Regent aufgestellt hat? Kann überhaupt jeder ein Regent werden? Und wie steht es mit der Theodizee-Problematik? Ist das gottesgläubige Kind, das in Afrika hungert, frei durch die innere Gewissheit göttlicher Zuwendung? Begreift es die Unendlichkeit Gottes? Oder will es einfach nur essen? – Oder sollte man gar nicht erst eine feste Bindung eingehen oder dem Gemeinwesen entsagen, um den Spielregeln des Zusammenlebens zu entkommen? Möchte man contra naturam hominum, also gegen die menschliche Natur, doch lieber das Leben eines Eremiten führen? Würde man dann nicht die Realität verkennen, dass es nicht nur einen Menschen in der Welt gibt? Ciceros ‘De re publica’ zufolge – und die dort getroffene Feststellung ist durchaus zeitlos – ist der Mensch, ebenso wie die Bienen, ein Gemeinschaftswesen, ein congregabilis, ein „Gesellschaftstier“, bzw. der Mensch lebt nun einmal in der Gesellschaft.
Ein Vorschlag für einen denkbaren Lösungsweg hingegen – und einen konkreteren als Drewermann ihn denkt – könnte folgendermaßen gedacht werden: Der Weg aus dem von Drewermann herbeigerufenen Paradoxon liegt wohl am ehesten – ganz einfach und vor allem real – in der Wahrnehmung von Freiräumen, die man sich nimmt, welche als Nische für die eigenen Interessen dienen können und die nötige Muße für die freie Entfaltung der eigenen Individualität bieten, um sich für kurze Zeit
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aus der Welt zu befreien, die einen zum Sünder (also hier zu einer angepasst funktionierenden Person) werden lässt, (der Welt,) in die man jedoch nach der tätigen Muße wieder getrost zurückkehren und seinen Pflichten nachkommen kann, um von höherer Warte zu reflektieren, wo man sich gerade befindet, währenddessen es dem Glaubenden natürlich freigestellt ist, dabei „Gott im Herzen“ zu tragen. Hätte Drewermann, der Theologe, einen Abstecher in die griechische Philosophie versucht, wäre er bestimmt bei den Epikureern fündig geworden. – Und wie verhält es sich mit den Atheisten, gemeint sind die glücklichen unter ihnen?

6. Fazit
Abschließend kann festgehalten werden: Drewermann zäumt das Pferd von hinten auf, indem er seine Auslegung mit einem Kierkegaardschen Übersatz beginnt. Er suggeriert, jeder könnte sich so in der Erzählung über den Besessenen und über Jona wieder finden. Diese subjektive Erkenntnis resultiert womöglich aus Drewermanns innerstem Wunsch, sich selber zu finden, weil er in seinem eigenen Befreiungsversuch mit seiner Freiheit ringt. Drewermann ist auf dem Weg des Heilungsprozesses. Seine Theologie ist auch immer ein Stück seiner eigenen Biographie. Ebenso wie der epilepsiekranke Dichter Fjodor M. Dostojewskij, den Drewermann immer wieder gerne heranzieht, Schöpfer mehrerer anfallskranker Romanfiguren war und ebenso wie Drewermann sich (als Vegetarier) für den Tierschutz einsetzt, so interpretiert der Theologe Eugen Drewermann – sprachlich angestrengt – die Markusperikope über „die Heilung des besessenen Geraseners“ (als Geschasster) für Geschasste. Dennoch, oder auch gerade deshalb, sind seine in diesem Aufsatz relativierten Gedankengänge der Reflexion wert.
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LITERATUR
ROMUALD BRUNNER, Borderline-Störungen und selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen: Ätiologie, Diagnostik und Therapie, Göttingen 2008.
EUGEN DREWERMANN: Tiefenpsychologie und Exegese. Band II: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. 5. Auflage. Olten - Freiburg 1989.
EUGEN DREWERMANN: Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik, Band 1: Dogma, Symbolismus, Solothurn - Düsseldorf 1993.
EUGEN DREWERMANN: Strukturen des Bösen I. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht, 10. Auflage, Paderborn 1995.
EUGEN DREWERMANN: Strukturen des Bösen II. Die jahwistische Urgeschichte in psychoanalytischer Sicht, 8. Auflage, Paderborn 2000.
EUGEN DREWERMANN: Strukturen des Bösen. Sonderausgabe. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer, philosophischer Sicht, Paderborn 1988.
KREUDENSTEIN: Die Wunder des Jesus von Nazareth, www.kreudenstein-online.de/Bibelkritik/Jesus_Teil3.htm.
JOACHIM RINGLEBEN, Symbol und göttliches Sein, in: G. HUMMEL (Hg.), Gott und Sein. Das Problem der Ontologie in der philosophischen Theologie Paul Tillichs. Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988, Berlin - New York 1989.
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PAUL TILLICH: Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: PAUL TILLICH,
Gesammelte Werke V: Die Frage nach dem Unbedingten, Stuttgart2 1978. KONRAD STAUSS: Neue Konzepte zum Borderline-Syndrom, Paderborn 1993.
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